SEHNSUCHT INC. – NOSTALGIE N.V. – WENS S.A. – LONGING GMBH
Ein Beitrag zur zeitgenössischen Kunst im Berliner Wedding - ohne Garantie

Heiko Daxl



“Unsere Sehnsucht wird immer größer, je weniger wir sie befriedigen können.”
Niccoló Macchiavelli aus “Clizia” (1525)

Die Menschheit hat seit jeher miteinander Geschäfte betrieben. Ob mit Verkauf von Tieren oder Traktoren, Produktion von Waffen oder Kunst, Transport durch Boten oder Flugzeug usw.. Hierfür sind bestimmte Gesellschaftsformen erforderlich. In Europa wie in Amerika oder Asien kann man zwischen verschiedenen Rechtsformen wählen. Gemeinsames Ziel dieser Rechtsformen (Inc., N.V., S.A., GmbH) ist die Beschränkung der Haftpflicht des Unternehmers.

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Wie ist dies jetzt mit den starken und bittersüßen Gefühlen, die die Sehnsucht auslöst, in Beziehung zu setzten. Das Sehnen ist ein Suchen, ein tiefes Verlangen nach etwas “Abwesendem”. Dies kann ein geliebter Mensch sein, der romantische Wunsch an einem anderen Ort, etwa in dem “Land wo die Zitronen blüh´n” zu sein. Diese Lücke, die das “Abwesende” schafft, versucht die globale SEHNSUCHT INC. der Kulturindustrie zu füllen, bzw. immer wieder neues Verlangen zu wecken. Die Werbung erzeugt immer neue Sehnsuchtsphantasien, die mit kühl kalkulierenden Macchiavellismus vermarktet werden.

Hier sind wir bei den Suchtproblemen gelandet. Süchte aller Art, ob stoffliche oder nicht-stoffliche, haben mit einem unerfüllten Bedürfnis des Menschen zu tun. Die Sehnsuchts-Konzerne projizieren auf eine vergangene bessere Zeit oder auch auf eine glücklichere Zukunft. Sie schaffen Wunschbilder, die vom gegenwärtigen Leben abgekoppelt sind und Profite versprechen.

Aber menschliches Verhalten ist in Gegensatz zu den Aussagen der Broker-Auguren und anderer Sterndeuter der internationalen Wirtschaft auch ein ästhetisches Verhalten, welches auf sinnlicher Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit beruht und sich insbesondere auf vielsinnig wahrnehmbare Quantitäten und Qualitäten unserer natürlichen und zivilisatorischen Umwelt inklusive aller ihrer innewohnenden Reiz- und Signalwirkungen richtet. Es ist ambivalent im Verhältnis zwischen geistiger Reflexion und praktischer Begierde und so gleichzeitig konstruktiv und destruktiv. In dieser Dialektik, im Zusammenstoss von These und Antithese kann sich Weltsicht als Synthese herausbilden. Die deutsche Romantik vor rund 200 Jahren sah ihre Aufgabe in der Heilung des Risses, der durch die Welt und damit durch die Individuen geht. Joseph von Eichendorffs Lösung ist die Kunst, denn “die Welt hebt an zu singen/Triffst Du nur das Zauberwort”.

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Man fährt in Berlin nach Wedding oder in den Wedding oder auf den Wedding? Dann ist man in, im, am oder auf dem Wedding. Vor rund 10 Jahren war ich auf einer Hochzeit, zwar in/im Tiergarten und ein australischer Freund meinte, es wäre so einfach den Ort zu finden, denn überall in der Stadt sei ja die Richtung zur Hochzeit ausgeschildert. “We drive to Wedding!” Dies ist eine Art antipodische Sicht auf Wedding, quasi auf dem Kopf stehend.

Diesem zentrumsnahen Stadtteil haftet der Ruch eines Problembezirks an. Aber liegt nicht gerade in der sogenannten Problematik ein chancenreiches Potential? Gerade Künstler finden und erobern sich Freiräume in den nicht so angesagten Vierteln der Stadt und werten sie über längere Sicht damit auf. Dies ist in vielen Metropolen der Fall, wo gesichts –und charakterlose zentrale Bereiche entstehen, die der Sicht auf die Welt durch den Apparat der weltumspannenden Medienkonzerne genügen und im Zuge der zunehmenden internationalen Austauschbarkeit von Nachrichten und Unterhaltung stereotypische Codes entwickeln, welche die Unterschiede des Raums auflösen und damit dessen Qualitäten. Das Antipodische, der Reichtum, der in der Differenz begründet ist, verwischt so zum globalen Einerlei und hebt die Gegensätze zwischen Hier und Dort auf.

Es droht die Gefahr der Beliebigkeit, die Sinnlosigkeit des Information-Overflow und damit das “Weiße Rauschen”. Die Welt wird im McLuhanschen Sinne zum globalen Dorf; jedoch ohne Geschichten und ohne Geschichte, denn diese entstehen durch Gegensätze: “Information is a difference that makes difference” (Gregory Bateson). Information aus welchen Bereichen auch immer kann sich nur im Gegensatz zum bloßen Wiedererkennen der immergleichen Muster entwickeln. Alles andere gehört auf den Müll. Als Alternative dazu entstehen jedoch auch neue Diskurse, Arbeitsweisen und Arten der Interaktion im Gegensatz zum Sendungbewußtseins des “One to Many”, dem klassischen Modell der Massenkommunikation mit all ihrem Suggestionspotential.

Was bedeutet der Stadtteil Wedding für die vielen Kulturen und die vielen Künstler aus unterschiedlichen Ländern, die in diesem innerstädtischen Viertel leben. Es geht um Sprache, um die Vielfältigkeit der Aneignungen und Erklärungen. Es geht auch um “Hochzeitsgeschenke” einer sich jenseits von nationalen Bestimmungen formierenden Gesellschaft, die die Impulse aus der physischen, architektonischen, historischen und sozialen Beschaffendheit der Zeit und ihrer Umgebung aufgreifen, auf sie reagieren und in gegebene Situationen eingreifen mit dem Hintergrund verschiedenster Herkünfte.

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Ein Schloss in Belgien, genauer gesagt die Landcommende Alden Biesen in der Provinz Limburg wird zum Schauplatz einer Gemeinschaftsausstellung mit zeitgenössischer Kunst mit Belgien und Berlin als den zwei Polen. Dieser Ort, der größte Schlosskomplex zwischen Rhein und Loire war einst Verwaltungszentrum einer Corporation einige Jahrhunderte zuvor, dem Deutsch-Ritterorden. Auch dieser Orden verfolgte internationale Ziele im damaligen Maßstab. Gegründet während des 3. Kreuzzuges sah er seine Hauptaufgabe in der Christianisierung und Kultivierung Europas, speziell der östlichen Regionen. Der Orden folgte einer Sehnsucht, die Hegel als das ewige Streben nach dem "unwandelbarem Wesen" bezeichnete, dem letztlich Wahren und Gewissen. In der Kultur, die vom christlichen Glauben beeinflusst ist, liegt dieses in der Sehnsucht nach dem Paradies. Die Kreuzigung Christi, die Symbol dieser Erkenntnis ist, macht dieses Bewusstsein unglücklich. Hegel nennt es im 4. Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes (1807) ein unglückliches Bewusstsein: "Dieses unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein muß also, weil dieser Widerspruch seines Wesens sich ein Bewußtsein ist, in dem einen Bewußtsein immer auch das andere haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu sein meint, wieder daraus ausgetrieben werden."

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200 Jahre weiter. Ist dieser Wesenshorizont  noch gültig? Die Dialektik bleibt als Unsicherheit, Zweifel und Frage für die Menschen, nicht nur in den europäischen Gesellschaften sicherlich bestehen, bezüglich der Religion, Dogmen und anderer Welterklärungsmodelle erscheinen nun am Horizont Cross-over Kunst- und Kommunikationsformen. Kreuzzüge in die eine oder Richtung sollten eigentlich obsolet geworden sein und das Beharren ihrer Vertreter ist hoffentlich nur ein Rückzugsgefecht.

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Die für die Ausstellung ausgewählten Exponate von in Berlin lebenden und arbeitenden Künstlern, die den Bezirk Wedding als ihr Arbeitsareal gewählt haben, versuchen, neue Räume zu öffnen und Geschichten zu erzählen. Die Auswahl soll nicht eine Richtung repräsentieren und auch nicht Trends herausstellen, sondern soll gerade durch den höchst unterschiedlichen Einsatz von Techniken und der individuellen Herangehensweisen in eine künstlerische Zukunft des pluralistischen Diskurses durch künstlerische Gestiken weisen. So sind auch die persönlichen Hintergründe und Geschichten der hier ausgestellten Künstler recht vielfältig. Sie haben ihre Wurzel sowohl in Deutschland, aber auch in Polen, Österreich, Usbekistan, Russland, Kroatien, Ungarn, Kanada und Mazedonien und die Bandbreite ihrer künstlerischen Ausdrucksmittel reicht von Malerei, Skulpturen und Objekten hinzu Installationen, Fotografie, Video und anderen Medien.

Jovan Balov thematisiert in seiner Fotoserie “09.05.2001” das Nachhallen der Vergangenheit in die Gegenwart Berlins. Die Werbung für den aktuellen Titel des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" über Hitler vom Mai 2001 und ein Plakat zu einer Ausstellung des Künstlers Neo Rauch nimmt er als Rahmen und dokumentiert in Schnappschüssen Belanglosigkeit und Teilnahmslosigkeit für die Passanten - Türken im Westen, oder Deutsche im Osten Berlins. Iwona Borkowska und Lucyna Viale inszenieren im fotografisch mitgenommenen Birkenwald aus ihrem Heimatland Polen und aus Klöppelspitzen hergestellten Möbelstücken, die Fragilität der Sesshaftigkeit in der Erinnerung in neuer Umgebung. Peter Farkas sucht ebenfalls nach dem Boden, siedelt sein Haus aber in schwebender Höhe an, allerdings mit festem Stand, doch die Auffangnetze scheinen trügerisch.
Ingeborg Fülepp und Heiko Daxl, benutzen ein zum Ende des 20. Jahrhunderts aufgebenes Kommunikationsmittel - den Morsecode - als Mittler zwischen Schöpfungsgeschichte und genetischer Manipulation, ein Thema zwischen Religion und technisch-wissenschaftlicher Machbarkeit. Dies ist gleichzeitig die Überleitung zu der Betrachtung von Marina Gerzovskaya über den sowjetischen Traum der 30. Jahre des 20. Jahrhunderts über die Manipulation der agrikulturellen Potentiale im gigantischen Ausmaß.

Armin Kauker hingegen ist ein stiller Sucher, den Einzelheiten und Details anregen, über mögliche Rituale und Zeremonien nachzudenken, welche er dann stellvertretend selbst vollzieht. Matthias Mayer aka mo magic ist den Sühnsüchten einer sich wandelnden Gesellschaft in St. Petersburg auf der Spur. In seinen Wohlstandsportraits stellt er Gesellschaft und Realität gegenüber. Die Werbung der russischen Supermarktkette OK liefert ihm das Rohmaterial für seine entlarvenden Collagierungen. Michaela Strumbergers Ansatzpunkt ist die Schöpfung, die Creation von Wesen durch den Menschen selbst. Doch scheint immer wieder etwas nicht zu gelingen. Die Proportionen sind verschoben und Gliedmaßen fehlen. In diesen grotesk anmutenden Skulpturen verschmelzen Schönheit und Hässlichkeit. In Anlehnung an Goyas “Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer”, zeigt sie die zuweilen absurd anmutende Möglichkeitsspanne zwischen Ratio und Imagination, zwischen Wirklichkeit und Phantasmagorie.

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In seinem “Jenseits des Lustprinzips” (1920) beschreibt Sigmund Freud in der Triebtheorie die konservative Natur der Triebe als ein Streben nicht nur nach Aufrechterhaltung eines bestehenden Zustands, sondern auch der Rückführung in seinen vermeintlichen besseren früheren Zustand. “Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zu Wiederherstellung eines früheren Zustandes....” In seinem Werk “Das Unbewußte” (1915) zieht er Rückschlüsse zwischen Trieben und den Affekten, wie etwa Empfindungen und Gefühlen. Freud hehauptet, dass in der Vorstellung, die Triebe als “Objekte des Bewußtseins” (S.82) in Erscheinung treten und sich durch Affekte äußern. Führt man sich jetzt die direkte Relation zwischen Trieben und Gefühlen vor Augen, so liegt es nahe, dass nicht nur die Triebe konservativen Charakter haben, sondern auch die aus ihnen resultierenden Gefühle einen ähnlichen Charakter haben. Das Gefühl der Sehnsucht, die an dem Erlebten, dem Vergangenen haftet, macht dies deutlich. Von der Sehnsucht betroffenen, empfindet einen jetzigen Zustand, als weniger schön oder schwieriger als den, dem die Erinnerung als dem besseren den Vorzug gibt.

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Die Ausstellung sucht vielleicht auch Wege in ein modernes Arkadien. Nicht jedoch um weltvergessen einem vergangenen romantischen Ideal nachzueifern, sondern eher im positiven utopischen Sinne freie Felder durch künstlerische Aneignung der Welt mit zeitgemässen Mitteln zu bestellen. Welche Welt ist welche? Und wer ist im welchem Paralleluniversum? Dies sind Fragen in einer globalisierten und normierten, aber gleichzeitig sich aufspaltenden Welt. Der Betrachter ist dabei nicht nur mitgefordert, die Sehnsucht nach dem Wahren und Schönen zu entdecken, sondern gleichzeitig auch Fragen an sich selbst, seinem Umfeld, dem Heute, der Erinnerung und der Vorstellung von Zukunft zu stellen. Jedoch ohne Garantie und Haftpflicht.

“Welcher Art muß zukunftsträchtiges Erinnern sein, damit man dereinst noch von der Gegenwart des Tradierbaren sprechen kann? Wie weit befördert die neue Medien-Kommunikation über Dezentralisierung nicht allein die Verfügbarkeit von Informationen, sondern je dissensuelle Autonomie und kulturelle Selbstlokalisierungen? Wieweit sind Ort, Region, Selbstbezüglichkeit durch konzeptuelle Überlagerungen/Segregation/Integration der internationalen High-Tech-Kultur möglich, und wie ändert sich dadurch nicht allein kulturtheoretisches Denken, sondern auch der Bezug von Gedächtnis und Vergegenwärtigung, d.h. die Temporalisierung von Historie als Je-Aktualität neu bestimmter Lebenszusammenhänge.” (Hans Ulrich Reck: Transitorische Turbulenzen: Konstruktionen des Erinnerns, 1994)

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Auch in den die Ausstellung begleitenden Videoarbeiten schwingen Fragen von Selbstbestimmtheit, Genuss, Erfahrung von Grenzsituationen und ein Sehnen nach individueller Klärung als Grundtöne mit. Claudia Michaela Kochsmeier rankt ihre sparsamen Bilder um eigene Texte, die menschliche Ängste und Hoffnungen vor dem Hintergrund von elementarer Natur, dem Meer und der Wüste, thematisieren. Ariane Blankenburg benutzt in ihrer Videoperformance aus Schokolade hergestellte Schuhe, die durch ihre Benutzung (in Schokolade laufen) gleichzeitig zerstört werden. Es ist eine Metapher auf die Vergänglichkeit des Genusses. Mattias Mayer setzt seine ferngesteuerten Kunst-Autos in Gang und ist so für eine Weile “Beherrscher” des Verkehrs in verschiedenen Städten. Christoph Faulhaber erweist die Referenz an Zeiten eines Aufbruchs in der europäischen Kunstgeschichte und für Fülepp und Daxl ist die Welt vor dem Objektiv Rohmaterial, welches durch intensive Bearbeitung im Brechtschen Sinne der Verfremdung so erst überhaupt sichtbar wird. Marina Lyabuskina sucht in ihren Videos nach Wegen der Heilung vergangener Wunden und vergangener Heimat während Dirk Holzberg in seinen reduzierten und streng schwarz-weiß gehaltenen Animation letztendlich die Frage nach der verlorenen Farbigkeit stellt und so überleitet zu Michaela Strumbergers poetischer Arbeit im Schwankungsfeld zwischen, Realität, Bestimmung, Imagination und Hoffnung

Ihre Arbeiten sind weniger spektakulär, nicht wie so vieles, was sich heute mehr und mehr einer “Gesellschaft des Spektakels” (Guy Debord) annähert als vielmehr raumschaffend im Sinne eines Prozesses der Annäherung und des Nachdenkens. Denn wenn ontologische Fragestellungen die Auseinandersetzung mit unserer Welt wieder mitbestimmen, dann ist auch die Kunst “jenseits der Maximen” (Vilem Flusser).

Die Ausdrucksformen mögen sich bei oberflächlicher Sicht als verschieden erweisen, doch sind sie Variationen der Reflexion auf ein und die selbe Wirklichkeit. Deren Ziel ist nicht die Scheinreproduktion von Wirklichkeit sein, sondern die Loslösung der abgebildeten Wirklichkeit aus üblichen Bedeutungskontexten und Zeitzusammenhängen und deren Sinnstiftung in neuen Kombinationen als Alternative zum “Manna” der Kulturindustrie. Ziel einer Sehnsucht im 21. Jahrhundert ist daher nicht die Erstellung einer Kopie der Realität, die notwendigerweise nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern künstlerische Aneignung, Annexion von Claims im Reich der gegenwärtigen Simulakren, wo sich eine Interpretation als nur eine Möglichkeit unter vielen erweist. Sehnsucht von heute bleibt somit unbestimmt und folgt keinem Dogma. Sehnsucht ist die Vielfalt der Möglichkeiten, aus Geschichte und Gegenwart Gestaltungsformen zu entwickeln, welche die Hoffnung nach einer anderen möglichen besseren Welt niemals aufgeben. Die Zukunft der Sehnsucht ist letztendlich utopisch. Denn Zukunft ist das eigentliche Ziel.

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Doch: “Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.” (Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Vers. 2038f.)

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